Wir veröffentlichen hier den bewegenden Nachruf von Nirit Sommerfeld von
der "Jüdischen Stimme für Gerechten Frieden in Nahost":
Bis zum letzten …
Fassungslos, traurig und wütend sind wir über den Verlust des
Hydrogeologen Clemens Messerschmid, der am 8. Februar in seiner geliebten
Wahlheimat Palästina, in ‚seiner‘ Stadt Ramallah, verstorben ist.
Fassungslos, weil er viel zu jung, viel zu lebendig, viel zu plötzlich
und unerwartet gegangen ist; traurig, weil er eine Lücke – nein, einen
Krater hinterlässt in unseren Herzen und unseren Hoffnungen, der mit
Trost nicht aufzufüllen ist; und wütend, weil wir keine Gelegenheit mehr
haben, ihn zu packen, zu schütteln und ihm ins Gewissen zu reden: Achte
endlich mehr auf Dich und Deine Gesundheit! Lass Deine Kerze im Kampf für
Recht und Gerechtigkeit für die Palästinenser nicht von beiden Seiten
abbrennen! Du machst Deine Arbeit ohnehin gewissenhaft, Du musst nicht
immer wieder über Deine eigenen Grenzen gehen bis zum letzten Quäntchen
Energie, das Dir zur Verfügung steht.
Aber er wäre nicht Clemens Messerschmid – der sturköpfige, aufrechte,
kämpferische Wasser-Experte, der überzeugte Kommunist und Marxist, der
wissbegierige Analyst, der wahrheitsbesessene Wissenschaftler – wenn er
nicht seine Grenzen bis zum Äußersten ausgereizt hätte. An seiner Seite
war ein ruhiges Leben nicht denkbar, weder im privaten noch im
beruflichen Umfeld. Ihm reichte seine Lebenszeit niemals aus. Wenn er
sich eine Meinung gebildet hatte, die immer fundiert war, konnte er
darüber trefflich streiten. Er ließ nicht locker, bis alle Argumente
durchdiskutiert, analysiert, bis ins letzte Detail beleuchtet und mit
penetranter Starrköpfigkeit auf ihren Wahrheitsgehalt hin hinterfragt
waren, gerne bis tief in die Nacht hinein bei ein, zwei Gläsern Wein und
ungezählten Zigaretten.
„Bis zum letzten Tropfen“ – das war der Titel seines Vortrags, den er
seit Jahren im deutschsprachigen Raum vor kleinen und größeren Gruppen
hielt. Als ausgewiesener Spezialist in allen Wasserfragen, explizit
vertraut mit jeder Facette von Grundwasser, Regenwasser, Wasserverbrauch
und vor allem der politischen Dimension der Wassernutzung in Palästina
und Israel konnte Clemens Messerschmid wie kein anderer komplizierte
Zusammenhänge verständlich erklären. Erst 2022 promovierte er, nachdem er
25 Jahre in Palästina geforscht und gearbeitet hatte. In seine
Doktorarbeit flossen Erkenntnisse ein über die Grundwasserneubildung im
palästinensischen und israelischen Grundwasserbecken im Westjordanland
ein, dem sogenannten Aquifer.
Der wesentliche Kern seiner Arbeit, der eng verknüpft war mit
naturwissenschaftlicher Forschung, aber weit über sie hinausging, ist die
politische Interpretation seiner Erkenntnisse. Von ihm konnten wir
lernen, dass in Ramallah mehr Regen fällt als in Berlin und dass der
Wasser-„Mangel“ in Wirklichkeit ein „Wasser-Mythos“ ist. Wir begriffen,
warum der Jordan-Fluss in der besetzten palästinensischen Westbank
austrocknet, wenn die Wüste auf israelischem Staatsgebiet „zum Blühen“
gebracht wird. Er lieferte uns erweiterte Kenntnisse und Analysen zur
Kolonisierung durch Wasser, was bis dato wenig erforscht war; er lehrte
uns, wie die Militärbesatzung durch ihren Raub von Wasser das tägliche
Leben der Besetzten bestimmte. Er analysierte wissenschaftlich präzise,
geradezu mit pedantischer Akribie die systematische Diskriminierung der
Palästinenser durch Israels staatlich gelenkte Wasserentnahme und prägte
den Begriff der Hydro-Apartheid.
Seine letzte berufliche Herausforderung war ein Projekt in der Westbank
im Auftrag der Weltbank, das 2022 begann und das er nun nicht zu Ende
bringen konnte. Daneben arbeitete er immer wieder mit der
Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammen, deren Stipendiat er gewesen war, beriet
eine Doktorandin an der Birzeit University bei Ramallah, gab Interviews,
schrieb Gutachten, besprach Podcasts und installierte Wassertanks für
palästinensische Bauern. Er bot sich stets als solidarischer Unterstützer
an, wie etwa im März 2019, als dem Verein Jüdische
Stimme der Göttinger
Friedenspreis verliehen wurde, was damals im Kontext von
Kontokündigung, Diffamierung und Rückzug von Räumen und Geldern zu
bundesweiten Protesten führte. Clemens kam eigens nach Göttingen
angereist und brachte ein Gedicht mit,
das er zu diesem Anlass verfasst hatte. Am liebsten hätte er es selbst
bei der Veranstaltung vorgetragen, mit seiner tiefen, kräftigen Stimme,
seinem bayerisch-grantlerischen Ton und seinem tiefgründigen, nicht
selten sarkastischen Humor, der ihn ebenso auszeichnete wie seine
Ernsthaftigkeit und Tiefe, ja auch pedantische Verbissenheit, mit der er
berufliche und politische Themen anging.
Clemens war nicht nur der „Wassermann“, wie ihn vor allem seine
palästinensischen Freunde und Weggefährten liebevoll nannten, für die er
eine leuchtende Leitfigur war. Er war auch ein „Lebemann“. Er liebte
ausschweifende Gespräche, intellektuellen Austausch und nicht zuletzt
gutes Essen – am besten alles in Kombination. Dabei spielte sein großes
Lebensthema – Wasser als Grundrecht, als politische Waffe und als
Schlüssel zur Gerechtigkeit – in jeder Lebenssituation, in jedem noch so
privaten Gespräch eine Rolle. Die Diskriminierung der Palästinenser durch
Israels Wasserpolitik, diese so offensichtliche Ungerechtigkeit, machte
ihn rasend und trieb ihn an, nicht locker zu lassen und seine politischen
Forderungen mithilfe seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse zu
untermauern und zu publizieren und sich auch zu anderen Themen der
Besatzung zu äußern. Seine palästinensischen Freunde gaben ihm daher den
Ehrentitel „deutscher Palästinenser“, aber eigentlich wird ihm das nicht
ganz gerecht. Denn Clemens war ein echter Internationalist, dem alles
Nationalistische zuwider war. Er pochte auf internationale Solidarität
und träumte von einem Land zwischen Mittelmeer und Jordan (und vielleicht
auch anderswo), in dem alle Menschen friedlich zusammenleben.
Seine große Liebe für diese Region begann 1997, als er 33-jährig für ein
deutsch-palästinensisches Wasserprojekt der GTZ nach Palästina kam. Seine
Affinität zu Israel hatte er sicher schon als Sprössling einer gut
situierten, kultivierten Intellektuellenfamilie entwickelt, in die er am
5. April 1964 in München hineingeboren wurde. Sie gab ihm ein fundiertes
Geschichtsbewusstsein mit und prägte seine tiefe Abscheu gegenüber dem
dunklen Kapitel deutscher Nazi-Herrschaft und seiner Implikationen bis in
die Gegenwart. Sein Studium begann er in München und setzte es in Aachen
fort, wo er zehn Jahre blieb und von dort aus die Welt bereiste. Diese
Reisen schärften seinen Blick für Kolonialismus und seine Folgen, für die
strukturellen Bedingungen, die zu Armut und Ausbeutung führen, und
bestärkten ihn darin, sich für die Ärmsten, die Entrechteten, die
Ungehörten einzusetzen. In Palästina führten seine Forschungen zur
Wassersituation dazu, dass er ein tiefes Verständnis und Mitgefühl
entwickelte für das Unrecht, das den Palästinensern widerfährt. Er machte
keinen Hehl daraus, dass er sich auf ihre Seite stellte, sich für sie
einsetzte – so wie er sich immer mit jenen verbunden fühlte, die unter
Unterdrückung und Diskriminierung leiden. Aber er war kein
Sozialromantiker: Er kritisierte auch die palästinensische Seite, ihre
korrupte Führung und ihre gesellschaftlichen Strukturen.
Am 8. Februar 2023 verstarb Clemens Messerschmid nach einem Herzinfarkt
in seiner Wohnung in Ramallah. Er hinterlässt seine 90-jährige Mutter,
seine Schwester Dorothee, seine Lebensgefährtin Kerstin und zahllose
Freunde, Gefährten, Kollegen, Genossen und Mitstreiter (-innen). Wir
vermissen ihn schmerzlich – als Freund, dessen Solidarität und
Unterstützung wir uns immer sicher waren; als Experten, der mit
inhaltlicher Präzision unbestechlich dem Wasser und der Wahrheit auf der
Spur war; als Partner und Genossen, als tief verwurzelten Linken, als
kritischen, klaren Geist, der sein Leben bis zum letzten Atemzug, bis zum
letzten Flackern seiner ausgehenden Kerze kompromisslos den Unterdrückten
widmete und uns damit ein großes Vermächtnis hinterlässt.